Um es deutlich zu machen, so muß ich bekennen, daß ich 1944, also mit 16 Jahren, in diesem Kinderheim homoerotische Erlebnisse hatte. Ich dachte an nichts anderes mehr. Göttlichkeit war für mich Sexualität. Sie hat mir das Leben gerettet. Für mich ist sie eine Form der Andacht und fällt mit einer nie mehr zu vergessenden Lebensbegeisterung zusammen. Im Französischen gibt es ein herrliches Buch mit dem Titel Der Zauberlehrling von Francois Augieras, der da so etwas wie eine Heiligung des Körpers vornimmt. In der fürchterlichen Geschichte der großen Mißdeutungen des Christentums ist die Verteufelung des Körpers die tragischste. Nirgendwo in der Bibel oder im Evangelium ist die Rede von der Verurteilung des Körpers. Eben das Gegenteil ist der Fall. Der Leib ist, solange ich existiere, immer da. Überallhin kommt er mit. Ich werde ihn nie los. Nirgendwo läßt er sich abstellen. Design in der Kunst – es gibt folglich kein reines Denken. Die leibliche Gegenwart, das rein Auf-körperliche-Empfindung-ausgerichtet-Seinistdie Wertlosigkeit der Sprache, wo jedes Wort uns auf Reales, also auf die Prägnanz materieller Gegenwart und Existenz der Umwelt zurückwirft. Ohne sie ist weder Malen noch Schreiben denkbar, und weil die Präsenz des Körpers unhintergehbar ist, sind mir sowohl eine Malerei als auch eine Bildhauerei und Literatur wichtig, die das nicht aus dem Auge verliert, sondern darauf aufmerksam macht, daß der Blick, der auf etwas geworfen wird, am Körper und dessen Plazierung im Raum gebunden ist.
Schauen, von dem Sie vorhin sprachen, hatte welche Bedeutung?
Keine, ich schaue einfach. Wissen Sie, was mich stets in Panik versetzt, das ist die ständige Interpretation. Vor der fürchte ich mich. Das finde ich eine Indiskretion, auch Dichtung finde ich obszön. Also ich kann stundenlang irgendwo sitzen und sehen. Nichts ist schöner, auch unverfänglicher.
Ist Ihnen die ekstatische Struktur des Sehens fremd?
Nicht fremd, aber sie geht mir schon wieder viel zu weit.
Wenn man darunter das Aus-sich-Heraustreten verstünde, also eine Form der Selbstvergessenheit und des Bei-den-Dingen-Seins, wie wäre das dann?
Das ist vielleicht möglich, aber nicht so ohne weiteres. Für mich wäre das Blindwerden eine absolute Katastrophe, weil ich mit dem einfachen Sehen so etwas wie ein Glücksgefühl verbinde. Sehen ist Welt. Ob das Bedeutung hat oder nicht, ist mir egal.
Apropos Blindheit, Sie kennen Evgen Bavcar?
Ja, wissen Sie, ich schäme mich direkt. Wir haben uns sehr oft telefonisch unterhalten, und ich bin immer zu faul gewesen, um ihn zu treffen. Paris ist so groß und weit, daß ich nie bei ihm gewesen bin. Bavcar, der denselben Verleger wie ich hat, deckt hochinteressante, viel zu wenig beachtete, völlig ignorierte Probleme auf, die mit dem dritten Auge und dem inneren Blick zu tun haben, wenn er über das blinde Sehen schreibt und redet. Wahrscheinlich kennen Sie Den Brief über die Blinden von Diderot, in dem dieser sich mit dem Grundempfinden der Leiblichkeit durch das Sehen befaßt. Es geht mir stets um die Art, wie wir so etwas wie die Kontinuität mit der Welt und dem Raum herstellen. Meine Frau amüsiert es immer, daß ich, sobald ich eine Bank sehe, was mir vor allem in Deutschland widerfährt, darauf Platz nehme, um nichts anderes zu tun als zu sehen. Mir tut es gut, stundenlang nur auf eine Landschaft oder auf nur einen Platz, wie diesen hier in Paris, zu schauen. Da ist immer etwas los, selbst wenn nichts los ist. Das Auge ist dauerbeschäftigt und empfänglich für minimale Lichtänderungen, die wandernden Schatten und den Anblick der Dinge, deren Farben
sich mit dem Stand der Sonne und dem Auftreten von Wolken und deren Verschwinden ändern. Alle fünf Minuten erscheint das Licht doch total anders. Noch nie in meinem Leben habe ich Tage erlebt, wo das Licht sich gleich geblieben wäre, und das ist großartig für uns, die sehen. Das ist, was ich als Weltoffenheit bezeichnen würde und worauf es sowohl Malern wie Literaten ankommt, die als Augen von Ort zu Ort ziehen.
Beinhaltet das Sehen, dem Sie sich zuwenden, so ein behagliches Gefühl von Körperlosigkeit?
Aus meinem Buch Der bestrafte Narziß über Masochismus hat der Verleger Ammann einen Satz des französischen Philosophen Jourbert als Deckeltext zitiert. Dieser, ein großer Freund von Chateaubriand, hat einmal geschrieben: “Es ist, als ob die Seele den Körper in ihrer Mitte hätte”. Genau so empfinde ich das.
Worum geht es in Ihrem Essay?
Um Masochismus, die Körperstrafe in meiner Kindheit und darum, daß die Strafe in ihr Gegenteil als Begeisterung umschlägt. Damit wollte ich alle Obrigkeit unterhöhlen. Alles Autoritäre muß bekämpft werden, und drum bin ich im Innern meines Herzens ein leidenschaftlicher Anarchist.
In Das Sein und das Nichts setzt sich Jean-Paul Sartre mit der Dialektik von Sadismus und Masochismus auseinander.
Das habe ich nie gelesen. Ich muß Ihnen mal eine so wahre wie bezeichnende Geschichte erzählen. Kurz, vielleicht drei oder vier Monate nach Erscheinen von Sartres Werk kam so ein armer Schlucker mit schäbigem Regenmantel bei Gallimard vorbei, so ein kleines Professörchen, ganz schüchtern, und sagte: “Ja, meine Damen und Herren, ich besitze ‘Das Sein und das Nichts’, und da ist wohl ein kleiner Irrtum passiert, denn das Buch springt von Seite 150 direkt auf Seite 290. Können Sie mir das bitte ersetzen?” Daraufhin ging jemand in den Keller ein neues Exemplar holen. Alle überprüfend, stellte er fest, daß jedes Buch den gleichen Fehler aufwies. Da war dann klar, daß sämtliche Kritiker, die ausführlich das Buch rezensiert hatten, es offensichtlich nicht und nur zum Teil gelesen hatten. Denn keinem war aufgefallen, daß es falsch sortiert war. Kaum jemand ist weiter als bis zur Seite 150 vorgestoßen. Eine schöne Anekdote, nicht wahr? Diese erste Ausgabe soll heute eine bibliophile Rarität sein.
Kannten Sie Sartre?
Ich habe ihn einmal gesehen. Ein unglaublich liebenswürdiger Mensch, dem ich einmal Wolf Biermann vorgestellt habe, aber am Ende seines Lebens in einem Cade in der Nähe der “Sorbonne”. Da ging es ihm schon sehr schlecht. Nun, ich habe einiges von ihm gelesen. Nur an Das Sein und das Nichts habe ich mich nie rangetraut. Über 800 Seiten zu lesen, das ist einfach zu viel verlangt. Ich bin der Ansicht, daß es kein Verleger zulassen sollte, daß Bücher mehr als 300 Seiten umfassen. Über Jahre habe ich honorarlos bei der Zeitschrift Quinzaine Literaire aus Freundschaft zu Maurice Nadeau gearbeitet, dem Autor eines Buches über den Surrealismus. Der hat einen glücklicherweise dazu gezwungen, auf wenig Raum möglichst viel auszudrücken, indem er einem nie mehr als vier Manuskriptseiten abnahm. Es ist eine gute Übung, gezwungen zu sein, in wenigen Zeilen Gedanken über Kunst oder Literatur festzulegen. Sie kennen doch das schöne Wort eines Franzosen aus dem 17. Jahrhundert, der sich für die Länge seines Briefes entschuldigte, indem er darauf verwies, keine Zeit gehabt zu haben, sich kürzer zu fassen.
Zurück zu dem zitierten Satz: “Es ist, als ob die Seele den Leib in ihrer Mitte enthielte “.
Damit ist gemeint, daß Leib und Seele dasselbe sind. Ich stehe hier, wie es Artaud immer sagte, und bin die Mitte des Raumes, der sich um mich herum ausbreitet; und das gilt auch für den Maler, der da sitzt und alles um sich herum ortet.
Wie stießen Sie auf Artaud? Welche Bedeutung hat er für Sie?
Ich gehörte zu den Jungen am Gymnasium, die um 1947 viel von und über ihn gelesen haben. Mein Leben lang hat er mich begleitet. Wie das sicherlich auch in Deutschland üblich war, übten wir uns darin, Gedichte zu schreiben. Das war die Zeit, wo wir achtzehnjährig der Literatur verfielen. An so gut wie jedem französischen Gymnasium gab es einen kleinen Club der Dichter. Ja, wir waren in einem Zustand der Exaltation, und da kam uns Artaud entgegen, schon allein wegen seines Theaterskandals, wo er diese fürchterliche Selbstinszenierung mit hysterischem Geschrei veranstaltet hat und als einziger ihm der alte Andre Gide zur Hilfe kam, vor einem in Peinlichkeit erstarrten Zuschauerraum. Daneben beeinflußte uns außerdem Arthur Rimbaud. Übrigens ist er ziemlich verkehrt ins Deutsche übertragen worden.